Teil 1 - Übliche Brustgeschirre und wie der Hund darauf reagiert

Teil 1 - Übliche Brustgeschirre und wie der Hund darauf reagiert

Die Funktion üblicher Brustgeschirre

Wenn wir einen Hund willkommen heißen in unserem Leben, dann sind wir mit der Aufgabe konfrontiert, unseren Hund zu verstehen. Die drei Hauptthemen bei der Erziehung des Hundes ausserhalb der Nutztierhaltung sind:

  1. Leinenführigkeit
  2. Soziale Kompetenz (Vermeidung von Aggressionen)
  3. Abrufbarkeit

Im Gegensatz zu Vorderführgeschirren wie STURMFREI® lösen die üblichen Brustgeschirre andere Reaktionen im Hund aus und hatten auch einen ursprünglich anderen Zweck. Nämlich nicht die Leinenführigkeit, sondern die Provokation zur Hatz. 

Brustgeschirre und ihre Funktion

Brustgeschirre werden im Groben anhand dessen definiert, dass die Halterung für die Leine am Rücken liegt. Darüber hinaus wurden Unterkategorien geschaffen wie Y-Geschirre oder Zuggeschirre. Hier gibt es viele Begrifflichkeiten, die im hier besprochenen Zusammenhang deswegen nicht relevant sind, weil die Führung hinten am Rücken immer zunächst den gleichen Effekt auf den Hund hat.
Denn der Hund reagiert instinktiv auf Berührungen und körperliche Einwirkungen an verschiedenen Stellen seines Körpers, in verschiedenen Kontexten und abhängig von Vorerfahrungen. 
Das Brustgeschirr (Hundeleine wird am Rücken befestigt, Hund wird am Rücken "gezogen") kommt - wie das Halsband - aus der Nutztierhaltung. Man hat sich hier eine sensorisch bedingte im Hund angelegte Reaktion zunutze gemacht: Umfasst man den Hund auf ein solche Art, dass sein Vorderkörper (Brust) gehalten wird und zieht man den Hund nach hinten, dann prescht der Hund nach vorne. Im Hundebereich nennt man dieses Verhalten den "Oppositionsreflex" (Druck erzeugt Gegendruck).
Ähnlich wird es mit Pferden und anderen vierbeinigen Tieren gehandhabt: Kopf oder die vordere Brust des Körpers werden nach hinten "gezogen", um das Tier zu motivieren nach vorne zu gehen. 
Beim Hund bietet sich auf seiner Größe an, das über eine Konstruktion zu bewerkstelligen, die den vorderen Bereich mittels eines Punktes am Rücken zusammenhält und dann am Rücken zu ziehen. Je weiter der Punkt hinten ist, desto stärker wird der Hund nach vorne gehen.
So wird z.B. bei Cani Cross (Laufen mit Hund) dem Hund ein Brustgeschirr umgelegt, das hinten über seinem hinteren Körperbereich endet. Die Leine wird quasi über dem Hinterteil des Hundes befestigt, der Hund spürt bei Zug, dass sein ganzer Körper nach hinten gezogen wird. Der Hund springt ruckartiger und kraftvoller nach vorne, wenn er einen Zug von hinten wahrnimmt (die Leine sich strafft). 
Wenn wir mit unseren Hunden Gassi gehen und die Leine sich strafft, da der Hund den Endpunkt des Radius erreicht hat, in dem er sich bewegen kann, empfindet der Hund es so, als ob ihn etwas zurückzöge. Er verstärkt daraufhin seine Bewegung nach vorne. Das funktioniert auch über seitlichen Zug. Wenn ihr Hund im Brustgeschirr (Führung am Rücken) rechts von Ihnen steht und Sie ihn nach links ziehen, dann wird er sich nach rechts dagegen stemmen. Einige Hunde können dabei enorme Kraft entwickeln. Auch wenn der Zug von ihrer Seite nur gering ausgeprägt war.
Das hängt wiederum mit folgendem zusammen:
Hunde nehmen draussen beim Gassi gehen sehr viele unterschiedliche Reize wahr. Sie erkunden die Umwelt und wägen im entspannten Zustand ab, was für sie interessant sein könnte. Z.B. die Fährte eines Kaninchens, der Urin eines neuen Nachbarhundes oder ein Stück Brot, das ein Schulkind auf dem Weg verschwinden lassen wollte, damit es keine Zeugen für dessen Nicht-gegessen-worden-sein gibt.
In dem Augenblick, wenn sich die Leine strafft und der Hund am Rücken den Druck verspürt gebremst zu werden, verengt sich sein Wahrnehmungsfeld und sein Organismus handelt in stiller "Panik". Das lässt sich in etwa mit folgender Situation vergleichen:
Ihr Haus brennt und Sie fragen sich: "Was ist das Wichtigste in dem Haus und was kann ich noch rausholen?".
Das heißt, dass das Gehirn des Hundes blitzartig priorisiert und sich auf den am meisten relevanten Reiz fokussiert. Das kann etwas sein, das vorher für den Hund gar nicht so relevant war. So wie für Sie evtl. ihr verstaubtes Tagebuch nicht interessant war, bevor das Haus anfing zu brennen. Aber plötzlich ist es wichtig: Jetzt muss das Tagebuch her, denn sonst würden Sie für immer über den Verlust trauern.
Die Leine wird straff und plötzlich bleibt der Hund wie gefesselt an der Stelle stehen, die er kurz zuvor zu verlassen schien und presst seine Nase mit aller Kraft in diese Richtung. Sie kommen sich veräppelt vor, richtig? Er veräppelt sie nicht, er reagiert biologisch angelegt.

Wozu waren Brustgeschirre ursprünglich gedacht?

Brustgeschirre sollten die "Zielfokussierung" verstärken. Das heisst, das dahinter folgender Gedanke stand: "Wie bekomme ich einen Hund dazu sich verstärkt auf einen Reiz zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen durch andere Reize?". 
Ein anschauliches Beispiel sind Terrierrassen, die uns im Hundeverkehr besonders oft auffallen. Diese wurden auf verschiedene Aufgaben (Nutztierhaltung) gezüchtet. Z.B. dazu Kaninchen ausfindig zu machen, zu stellen und dabei sehr laut zu bellen, damit der Jäger sie erlegen konnte. Da der Hund, der draussen unterwegs naturgemäß sich aber auch für andere Dinge interessiert und erstmal auf einen Reiz konditioniert werden muss, nutzte man das Brustgeschirr. Zunächst machte man einem Hund besonders schmackhaft Kaninchen (und nicht Rehe zu jagen) durch positive Bestätigung bzw. Bestrafung beim Jagen von Rehen und dann zog man ihm das Brustgeschirr an.
Dies wurde über Generationen verstärkt und Terrierweibchen und -männchen miteinander verparrt, die besonders motiviert ihrer Aufgabe nachkamen. So wurde das Kaninchen stellen und Bellen über die Zucht zu einer Eigenschaft der Terrierrasse, die dafür bestimmt worden war.
So gelang es, dass man einem jungen Terrierrüden früh eine Brustgeschirrkonstruktion anziehen konnte und er bereits im frühen Alter statt sich auf Reize wie andere Hunde auf die Fährte von Kaninchen konzentrierte. War der Hund kurz abgelenkt, zog man am Hund und der Hund fokussierte sich darauf die Fährte der Kaninchen wieder aufzunehmen. Deswegen finden heute auch Brustgeschirre und nicht Halsbänder oder Vorderführgeschirre wie STURMFREI® im Mantrailing Verwendung. Auch dabei geht es um Fährtenarbeit. Dabei sucht der Hund in der Regel die Halterin oder den Halter oder andere Dinge, die mit Gerüchen verknüpft sind und die er zuordnen kann. Gezielt eingesetzt kann das einem Hund Spass machen, denn es fordert seine Konzentration. Eine Jagdhundrasse, die auf das Fährtenfolgen gezüchtet ist, wird dabei in der Regel mehr Freude haben, als eine Rasse, die zu umkreisen ihrer Herde gezüchtet worden. Mitglieder solcher Rassen lassen nämlich ungern ihre "Herde" ganz aus den Augen/dem Geruchssinn. 
Auch Schutzhundrassen wie Deutsche Schäferhunde werden mittels Brustgeschirren dazu angelernt Dinge oder Menschen ausfindig zu machen (über den Geruchssinn) und diesem Reiz zu folgen.

Der Hundealltag mit Brustgeschirr

Viele Menschen klagen darüber, dass ihr Hund, sobald er am Brustgeschirr ist, sie nicht mehr wahrnimmt. Das sollte niemand persönlich nehmen, denn das ist kontextbedingt. Nehmen wir an Sie wären eine Woche von ihrem Hund getrennt und würden ihm dann entgegenkommen würden (während jemand anders ihm Brustgeschirr führt): Die Chancen stehen gut, dass er sich gar losreissen würde. Denn in dem Augenblick wären Sie der interessanteste Reiz und die Kraft des Hundes würde sich am Brustgeschirr entsprechend vervielfachen, um Sie zu erreichen.

Ständiger Widerspruch

Ist ihr Hund an der Leine, wird von Ihnen am Rücken eingehakt und prescht los, dann ist er oft zeitgleich mit dem Signal (verbal oder durch Ziehen) konfrontiert NICHT los zu preschen. Das führt bei einem Hund zur starker Verwirrung.
Das ist auch ein Mitgrund, warum es zunehmend leinenaggressive Hund am Brustgeschirr gibt. Der Großteil leinenaggressiver Hunde trägt derzeit immer noch Halsband, jedoch steigt die Zahl der Hunde die Brustgeschirr tragen und sich aggressiv gegenüber anderen Hunden an der Leine verhalten.
Das hat auch mit Ängsten der Halterin zu tun. Denn Hunde, die sehr eng mit Menschen aufwachsen und wenig Freilauf haben, identifizieren sich stärker mit den Gefühle ihrer Halterinnen und Halter. So kann Angst beim Menschen dazu führen, dass insbesondere Rüden ein stärkeres Bedürfnis haben die Umgebung zu prüfen (andere Hunde zu begrüßen und einzuschätzen). Mit dem Zug nach hinten verstärkt sich dieses Bedürfnis und wird gleichzeitig zusätzlich angeheizt durch die Nervosität der Halterin, die dem Rüden vermittelt, dass er ERST RECHT schauen muss, wer da kommt. Das kann langfristig zu einer Aggression gegenüber allen Hunden führen, die auf den Hund und seine Haltern zukommen. Diese Problematik sehen wir besonders oft bei weiblichen Halterinnen und Rüden, da es mit geschlechterbedingtem Verhalten zutun hat. Der Rüde sieht seine Halterin stärker territorial an, als einen Halter (außer er wurde rassetechnisch darauf gezüchtet) und reagiert daher umso stärker bei "drohender Gefahr" auch durch "Konkurrenten" um die Gunst der Halterin. Das Problem ergibt sich daher seltener zwischen männlichen Haltern und Rüden, männlichen Haltern und Hündinnen oder weiblichen Halterinnen und Hündinnen.

Brustgeschirr für das Auspowern

Wenn Sie Ihren Hund am Brustgeschirr führen wollen bzw. Ihren Hund von hinten umfassen und die Leine am Rücken einhaken wollen, dann tun sie das immer dann, wenn Sie möchten, dass er auf gewisse Reize verstärkt reagiert. Nutzen Sie das Brustgeschirr z.B. um ihn "Schnüffelarbeit" machen zu lassen, indem Sie Leckerlis verstecken oder wenn Sie eine Laufhundrasse wie Australian Shepherds oder Huskies in den Laufmodus zu versetzen möchten.
Für Rassehunde, deren direkte Vorfahren aus der Nutztierhaltung kommen, bedeutet den rassespezifischen Aufgaben nachzukommen auch ein Auspowern und sich "selbst nach kommen". Ermöglichen Sie Ihrem Hund jedoch auch Freizeiten davon, lassen Sie ihn toben, gewöhnen Sie ihn an andere Hunderassen (unterschiedlicher Größen), damit er durch interaktive Erfahrungen mit Hund und Mensch die Umwelt und sich einschätzen lernt (und Selbstwert entwickelt). 
Führen Sie Ihren Hund von vorne, wenn Sie mit dem verstärkten "Ziehen" an der Leine nicht konfrontiert sein wollen oder mit ihm trainieren möchten. Durch die Führung von vorne können Sie seine Aufmerksamkeit zu sich lenken und "entlassen" den Hund aus dem "Hypermodus" des Brustgeschirrs.
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